{"id":764,"date":"2013-01-04T20:16:34","date_gmt":"2013-01-04T20:16:34","guid":{"rendered":"http:\/\/jcmeister.de\/?p=764"},"modified":"2023-05-23T20:22:39","modified_gmt":"2023-05-23T20:22:39","slug":"ein-blogpost-uber-ein-buch-uber-einen-film-uber-eine-reise-zu-einem-zimmer","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/jcmeister.de\/ein-blogpost-uber-ein-buch-uber-einen-film-uber-eine-reise-zu-einem-zimmer\/","title":{"rendered":"Ein Blogpost \u00fcber ein Buch \u00fcber einen Film \u00fcber eine Reise zu einem Zimmer"},"content":{"rendered":"
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\"\"<\/a><\/figure><\/div>\n\n\n

Manchmal lese ich auch B\u00fccher. Zu Weihnachten habe ich mir eines von Geoff Dyer geschenkt, auf das ich durch eine SZ-Rezension aufmerksam geworden bin: “Die Zone. Ein Buch \u00fcber einen Film \u00fcber eine Reise zu einem Zimmer” (M\u00fcnchen 2012; leider war ich zu ungeduldig, mir das englische Original zu besorgen, habe es also in der zwar insgesamt soliden, aber naturgem\u00e4\u00df den englischen Sprachwitz und die Lakonie wohl nur bedingt vermittelnden \u00dcbersetzung von Marion Kagerer gelesen, mit der ich dennoch zufrieden war – bis ich auf ein Verb stie\u00df, das mir immer noch auf der Zunge liegt wie ein Gemisch aus Heurigem und s\u00fc\u00dfem Senf: “schl\u00e4gern.” Jawohl, “schl\u00e4gern” – S.178.  Ich dachte erst, ich hab’ was \u00fcberlesen; ging’s da irgendwo um Tennis oder Squash? Nein. Es geht um drei M\u00e4nner, die sich pr\u00fcgeln, raufen, schlagen, hauen. Eben Schl\u00e4ger, die sich, wie k\u00f6nnte es also anders sein, “schl\u00e4gern”. So wie z.B. Autofahrer naturgem\u00e4\u00df “fahrern”, Zahn\u00e4rzte “bohrern” und Rechner “rechnern”. Ich habe nie gedacht, dass Worte einen regelrechten Geschmack annehmen k\u00f6nnen, aber “schl\u00e4gern” kanns. Und es schmeckt – sensu literalis<\/em> ebenso wie sensu schwytzerd\u00fctsch<\/em>, d.h. gustatorisch wie olfaktorisch – nun mal wie eine tote Wei\u00dfwurst. – Ende des geschm\u00e4cklerischen Exkurses. Ja Himmel, habt’s Ihr keine Lektoren bei Schirmer-Mosel?)<\/p>\n\n\n\n

Die “Zone”, die dieses Buch im Titel tr\u00e4gt, ist eine mystische, verbotene Region in Andrej Tarkovskijs Kultfilm “Stalker”<\/a><\/em> aus dem Jahr 1979 (“beinharter Art House<\/em>-Stuff”, wie es auf weltbild.de<\/a> im Artikel zum Buch treffend hei\u00dft). Stalker, die Hauptfigur, f\u00fchrt in dem Film zwei M\u00e4nner in dieses Gebiet, um sie zu einem Zimmer in dessen Mitte zu bringen, das im Rufe steht, die geheimsten W\u00fcnsche desjenigen, der es betritt, zu erf\u00fcllen. Den Inhalt des Films ausf\u00fchrlicher darzulegen und zu kommentieren hie\u00dfe, das Buch Dyers gleich noch einmal zu schreiben. Exakt 200 Druckseiten lang verkn\u00fcpft Dyers Text eine minuti\u00f6se Schilderung der Handlung und kinematographischen Umsetzung (urspr\u00fcnglich sollte diese Inhaltsangabe 1:1 den 144 Cuts des Films folgen, aber irgendwann schmiss Dyer, wie er anmerkt, dieses denn doch recht mechanische Konzept zum Gl\u00fcck \u00fcber Bord) mit gerne etwas schnoddrigen interpretierenden Anmerkungen, daf\u00fcr aber umso gehaltvolleren Assoziationen und interessanten Exkursen in den hier und da ausufernden Fu\u00dfnoten. Ich glaube nicht, dass irgendjemand, der den Film nicht<\/strong> kennt (und von ihm so fasziniert und angesprochen ist, wie Dyer es ist und wie ich selbst es immer noch bin), mit diesem eigenartigen, mehrspurigen Close Reading<\/em> viel anfangen kann. Aber wer diese Voraussetzungen mitbringt, darf sich auf etwas freuen und gefasst machen – n\u00e4mlich auf die Begegnung mit einer subjektiven Lesart dieses enigmatischen Filmkunstwerks, die dessen Anschlussf\u00e4higkeit und Ausdeutbarkeit auf eine ebenso intelligente wie transparente und ehrliche, pers\u00f6nliche Weise nutzt.  Das ist ein wenig so, wie Roland Barthes’ “S\/Z” zu lesen, wenn auch nicht mit einem derartigen programmatischen Anspruch.<\/p>\n\n\n\n

Jemand anders beim Sehen oder Lesen zuzuschauen ist ja eigentlich nur dann gerechtfertigt, wenn man Voyeur, Psychoanalytiker oder mangels Mut zum hermeneutischen Risiko auf Ersatzerfahrungen sich kaprizierender Literaturwissenschaftler ist. Sicher, Dyers Lesart des Films ist ‘adaptiv’, d.h. seine Motivation ist eine sehr pers\u00f6nliche, man k\u00f6nnte vielleicht sagen: es geht um einen Probleml\u00f6sungsversuch. Aber das Problem, um das es Dyer mit, ebenso wie Tarkovskij in “Stalker” geht, ist eines, das uns alle betrifft – es ist das R\u00e4tsel des Wunsches, oder genauer, des W\u00fcnschens. Was ist das f\u00fcr ein eigent\u00fcmliches Verm\u00f6gen, das uns so viel Kraft gibt und Energie, solange es sich auf ein Abwesendes, noch nicht Gewordenes richtet? Diese Frage l\u00e4sst sich ja nicht mit dem Hinweis auf die triviale Erfahrung kl\u00e4ren, dass der Wunsch selbst im Augenblick seiner Erf\u00fcllung kollabiert. W\u00fcnschen-K\u00f6nnen mag zwar, in der Dimension des Objektbezugs,  ex negativo<\/em> definiert sein als Bezugnahme auf ein notwendig Nicht-Vorhandenes – aber es ist in der Dimension subjektiver Selbsterfahrung zugleich ein positiver Ausdruck des Verm\u00f6gens zur Transzendenz des je Vorhandenen. In Tarkovskijs “Stalker” geht am Ende keiner der drei M\u00e4nner (Stalker, Professor, Schriftsteller – alle drei tragen generische Bezeichnungen, keine Eigennamen) in das wunscherf\u00fcllende “Zimmer”.  Genauso verweigert sich Dyers akribische Rekonstruktion des Inhalts, auch wenn sie mit vielen pers\u00f6nlichen Assoziationen und kulturgeschichtlichen Querverweisen angereichert wird,  selber dem Schritt ins “Zimmer” einer symbolischen Gesamtdeutung – was zum gr\u00f6\u00dften Teil der Tatsache geschuldet ist, dass seine Anmerkungen zur Bild- und Montage\u00e4sthetik des Films konsequent deskriptiv bleiben. Und auch das Buchprojekt als solches, das sein Verfasser in zwei oder drei eingestreuten Metakommentaren wiederum als eine Art Reise begreift und reflektiert,  tut am Ende genau das, was der Film tut: es entl\u00e4sst seinen Verfasser und uns wieder in ein Schwarzwei\u00df – aber in ein gel\u00e4utertes, sepiafarbenes, \u00fcber das Dyer schreibt:<\/p>\n\n\n\n

“Schon das Schwarzwei\u00df von Stalker<\/em> als schwarzwei\u00df zu bezeichnen hei\u00dft, das Gesehene mit einem unangebrachten Verweis auf den Regenbogen zu f\u00e4rben. Technisch erzielte man den konzentrierten Sepiaton, indem man in Farbe drehte und schwarzwei\u00df entwickelte. Das Ergebnis ist eine Art Submonochromie mit so komprimiertem Spektrum, dass eine Energiequelle daraus entstehen k\u00f6nnte, wie \u00d6l und fast so dunkel, aber dazu mit einem goldenen Schimmer.”<\/p>\n\n\n\n

Tarkovskijs Stalker<\/em> ist, wie Dyer behauptet, nicht einfach nur ein “gro\u00dfartiger Film”, sondern “seinetwegen wurde das Kino erfunden.”  Ich fand das Statement (klar, das fetzt und steht deshalb auch auf dem R\u00fccken des Covers und im Untertitel zu dem Bild auf meiner ‘Projekte’-Seite hier) zun\u00e4chst catchy<\/em>, dann aber doch etwas nichtssagend. Aber nachdem ich den Film wieder gesehen habe, denke ich, es ist was dran – wenngleich diese Tarkovskijsche \u00c4sthetik des negativen Sinns, der Anti-Symbolik, der radikalen ikonographischen Vordergr\u00fcndigkeit doch auch ein wenig manieristisch und existentialistisch daherkommt. Aber so waren wir eben drauf, damals, in den sp\u00e4ten 1970ern, als alles anfing, post- zu werden, und man sich Stalker<\/em> drei Mal hintereinander im Abaton anschaute. Nur: um so eine All-Behauptung jenseits des tempor\u00e4ren Aufmerksamkeitseffekts sinnvoll zu machen, m\u00fcsste Dyer dann doch das tun, was er so sorgsam vermeidet, n\u00e4mlich seinem enthusiastischen \u00e4sthetischen Urteil ein philosophisches Fundament einziehen. Es gibt Ans\u00e4tze dazu, die sich mit Tarkovskijs sehr eigener Begabung auseinandersetzen, uns zu einer filmischen Variante jener Sehweise einzuladen, die Uwe Timm im literarischen Feld als eine “\u00c4sthetik des Alltags” und der Dinge bezeichnet – n\u00e4mlich da, wo Tarkovskij seine Kamera geduldig Objekte betrachten l\u00e4sst, die ihrem pragmatischen Zweck abhanden gekommen sind (zerbrochene Kacheln; eine Spritze im Wasser; verrostete Eisenst\u00fccke) und daraus einen poetischen Freiraum zu sch\u00f6pfen scheinen, der aber garnicht ihr eigenes Verdienst ist, sondern das des Betrachters, der sich auf sie einl\u00e4sst.  Tarkovskij selbst jedenfalls hat solche philosophierenden Selbstkommentare keinesfalls gescheut. O-Ton Tarkovskij<\/a>: “The allotted function of art is not, as is often assumed, to put across ideas, to propagate thoughts, to serve as example. The aim of art is to prepare a person for death, to plough and harrow his soul, rendering it capable of turning to good.<\/em>” – A propos, eine Anspielung, die Dyer nicht<\/span> gesehen hat: der Motorradfahrer in der Szene, als die drei M\u00e4nner mit dem Landrover (KEIN Jeep!!!) \u00fcber das verlassene Industriegel\u00e4nde in die Randzone der Zone rumpeln, stammt aus Jean Cocteaus Orph\u00e9e<\/em><\/a> von 1949 – das muss man doch raffen!<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Manchmal lese ich auch B\u00fccher. Zu Weihnachten habe ich mir eines von Geoff Dyer geschenkt, auf das ich durch eine SZ-Rezension aufmerksam geworden bin: “Die Zone. Ein Buch \u00fcber einen Film \u00fcber eine Reise zu einem Zimmer” (M\u00fcnchen 2012; leider war ich zu ungeduldig, mir das englische Original zu besorgen, habe es also in der […]<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":0,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":{"footnotes":""},"categories":[1],"tags":[],"class_list":["post-764","post","type-post","status-publish","format-standard","hentry","category-uncategorized"],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/jcmeister.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/764","targetHints":{"allow":["GET"]}}],"collection":[{"href":"https:\/\/jcmeister.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/jcmeister.de\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/jcmeister.de\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/jcmeister.de\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=764"}],"version-history":[{"count":10,"href":"https:\/\/jcmeister.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/764\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":2300,"href":"https:\/\/jcmeister.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/764\/revisions\/2300"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/jcmeister.de\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=764"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/jcmeister.de\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=764"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/jcmeister.de\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=764"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}