Die Angst des Wissenschaftlers vor dem Ich oder: das Reflexivpassiv

Im Folgenden wird sich mit einer sprachlichen Marotte auseinandergesetzt. 

Es wird sich bei der Korrektur von studentischen Arbeiten zunehmend beobachtet, dass sich von deren VerfasserInnen keine Bemühung gescheut wird, um eine Herummogelung um jegliche Verwendung des Aktiv oder gar – horribile dictu! – des Personalpronomens erste Person Singular zu erzielen. Damit wird sich anscheinend gerne an der Zielsetzung orientiert, einen möglichst „wissenschaftlichen Stil“ zu schreiben.  Dieses Faktum erklärt sich vermutlich dadurch, dass sich von den VerfasserInnen an die Vorschrift erinnert wird, dass man und frau in solchen Texten (bzw. in Texten, die sich als solche – nämlich wissenschaftliche – beabsichtigt werden) NIEMALS ICH SAGEN DÜRFE.

Hierzu erkläre ich: Das ist Mumpitz.

Wer im Verlaufe einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung – sei es in einer Diskussion, sei es in einer schriftlichen Darlegung – eine aktive intellektuelle Leistung erbringt, wer also etwas beobachtet, behauptet, vermutet, schlussfolgert, bezweifelt, plant, verwirft und dergleichen mehr und ebendieses Faktum im Sinne einer reflexiven Aussage markieren will – der oder die hat jedes Recht, „Ich“ zu sagen.  Denn mit so einer Aussage im Aktiv wird ja etwas objektiv Wahres gesagt.  Hier ist „Ich tue dies oder das“ ganz einfach eine diskursive Tatsache.  Denn: „Ich denke, sage, meine etc.“ ist zwar kein Argument, aber es ist ein Fakt!

Es ist deshalb absolut korrekt, am Anfang eines neuen Abschnittes z.B. zu formulieren: „Im folgenden Abschnitt werde ich darlegen, wann die Verwendung des Personalpronomens ‚Ich’ unangemessen ist.“  Und wenn Ihnen das zuviel „Ich“ sein sollte, nun gut, dann eben im korrekten Passiv: „Im folgenden Abschnitt wird dargelegt werden, warum …“ usw.

Problematisch und im wissenschaftlichen Diskurs am falschen Platz ist das „Ich“ hingegen, wenn man es offen oder verdeckt als Argument missbraucht oder sich auf seine Subjektivität zurückzieht, weil einem keine Argumente (mehr) einfallen.  Was also nicht geht, ist ein Satz wie dieser: „Ich frage mich, warum Sie diesen Schrott schreiben.“ (Ich frage mich das allerdings trotzdem, denn für meinen Geschmack schreiben Sie nun wirklich Schrott, wenn Sie das schreiben.)

Der allerschlimmste Schrott aber ist – das sog. Reflexiv-Passiv, in dem ein „es“ und ein „sich“ verkuppelt werden. Halb „Ich“, halb „Nicht-Ich“ kommen dabei sprachliche Charakterlosigkeiten heraus, in denen
es sich gedacht, es sich überlegt, es sich orientiert, es sich geschlossen und es sich um Kopf und Kragen formuliert wird, das sich (oder doch besser: es? ihm? ihr? uns? mir?) die Schwarte kracht.

Wenn es sich daran noch genauer grammatisch interessiert wird,
empfehle ICH die Lektüre des nachfolgenden Auszugs aus Karin Pittner, Judith Berman: „Deutsche Syntax: ein Arbeitsbuch“, Tübingen 2007. Und wenn es sich beabsichtigt wird, von diesem Dozenten gewertschätzt zu werden, empfiehlt es sich (und nur dieses vorletzte und das gleich folgende letzte es & sich im Passiv sind grammatisch korrekt!), das Reflexiv-Passiv auf immer und ewig zu vermeiden!

Es würde sich darüber freuen,

Ihr

Jan Christoph Meister